Die Mutationen des Coronavirus SARS-CoV-2 sind in diesen Tagen in aller Munde. Herr Professor Schulz, es gibt bereits die britische, die südafrikanische und auch die brasilianische Variante des Coronavirus SARS-CoV-2. Wie gefährlich sind diese Varianten?

Bei der englischen Variante namens B.1.1.7 ist es relativ sicher, dass sie leichter übertragbar ist als die Variante, die wir bisher in Deutschland haben – und zwar um 30 bis 50 Prozent. Das bedeutet, dass im Durchschnitt jeder mit der neuen Variante Infizierte mehr Menschen ansteckt als jemand, der mit dem ‚herkömmlichen‘ Virus infiziert ist. Dadurch steigt das Risiko der schnellen Ausbreitung der B.1.1.7 Variante. Diese Variante wurde zunächst in Großbritannien entdeckt. Doch ihre genaue Herkunft ist ungeklärt, sie wurde dort aufgrund der guten Überwachung gefunden. Sie hat beispielsweise in Irland für massive Probleme gesorgt, nachdem dort die Infektionszahlen Anfang Dezember 2020 recht niedrig waren. Auch in Portugal gibt es hohe Fallzahlen mit dieser Mutante. In Dänemark und in der Schweiz breitet sich diese Variante derzeit auf niedrigem Niveau aus.
Die B.1.1.7 Variante ist nicht nur ansteckender als das ‚herkömmliche‘ Virus, es gibt auch erste Daten, die darauf hinweisen, dass sie krankmachender sein könnte, dass also im Durchschnitt mehr Menschen nach einer Infektion versterben.
Die Geschwindigkeit, mit der sich die südafrikanische Variante namens B.1.351 in Südafrika verbreitet, weist darauf hin, dass sie ebenfalls leichter übertragbar ist. Sie ist dort jetzt die dominierende Variante, wurde aber vereinzelt auch in anderen Ländern gefunden. So wurden in den letzten Tagen mehrfach von Infektionsfällen mit der Variante B.1.351 an verschiedenen Orten in Großbritannien berichtet, ohne dass ein Kontakt nach Südafrika offensichtlich war. Dies spricht dafür, dass sich die Variante B.1.351 dort schon unerkannt, aber zurzeit noch auf niedrigem Niveau, ausgebreitet hat. Angesichts des schnellen Ausbreitungspotentials stellt dies einen Anlass zur Sorge dar.
In Brasilien zirkulieren mehrere neue Varianten. Die als „brasilianische Variante B.1.1.248“ bezeichnete Variante ist zunächst in Japan bei Reiserückkehrern aus Brasilien aufgefallen. Bisher gibt es nur wenige Daten über diese Variante.

Wie oft kommen diese Varianten bisher in Deutschland vor?

Bisher sind die Varianten in Deutschland alle selten. Kürzlich veröffentlichte Daten schätzen den Anteil der B.1.1.7 Mutante in Deutschland an allen Infektionen auf zirka sechs Prozent. Es gab einige Ausbrüche der englischen Variante, beispielsweise einen in Hannover, der aber vom Gesundheitsamt wieder eingefangen werden konnte. Auch in anderen Städten, zum Beispiel in Berlin, gab es ‚Infektionsherde‘, die auf die B.1.1.7 Variante zurückgeführt werden konnten. Die südafrikanische Variante hat auch vereinzelte Infektionen verursacht und auch die brasilianische Variante ist bereits in Deutschland nachgewiesen worden. Um genauer herauszufinden, wie verbreitet die neuen Varianten in Deutschland sind, werden nun zwischen fünf und zehn Prozent der gemeldeten Neuinfektionen-Proben sequenziert. Dies dient dem Ziel, einen besseren Überblick über die Ausbreitung dieser und anderer, möglicherweise in der Zukunft auftretender, Mutanten zu gewinnen.

Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass das Virus umso schneller mutieren kann und umso mehr Varianten entstehen, je mehr man dem Virus Raum zur Vermehrung gibt – das heißt, je höher die Infektionszahlen in einer Bevölkerung sind. Das Auftreten der drei genannten neuen Varianten in Ländern, in denen die Infektionsraten sehr hoch sind oder waren, illustriert dies eindrücklich. Ferner belegt das Auftreten dieser Varianten auch, dass es bei der jetzt anlaufenden Impfkampagne nicht nur darum geht, die Bevölkerung in ‚reichen‘ Ländern zu schützen, sondern dass es uns in Deutschland in unserem eigenen Interesse sein muss, dass in ärmeren Länder die Impfung möglichst schnell durchgeführt werden wird. Nur wenn alle sicher sind, sind wir sicher!

Wirken die Impfstoffe auch gegen diese Virus-Varianten?

Mehrere Varianten können einem Teil der Antikörperantwort entkommen, die unser Körper nach einer Impfung oder nach einer überstandenen Infektion aufgebaut hat. Es besteht die Möglichkeit, dass das in Bezug auf die Impfungen zu einem Problem wird. Erste Hinweise darauf, dass kürzlich neu entwickelte Impfstoffe zum Beispiel nicht so gut gegen die B.1.351 Variante schützen wie gegen ‚herkömmliche‘ Varianten, gibt es bereits. Allerdings dürften die neuen Impfstoffe nach gegenwärtigem Kenntnisstand immer noch zumindest einen partiellen Schutz gegen die genannten Varianten vermitteln und schwere Erkrankungen verhindern. Vielleicht wird bei den erwähnten Varianten eine zusätzliche Auffrischungsimpfung notwendig werden.

Wir müssen uns auch darauf einstellen, gegebenenfalls Impfstoffe modifizieren zu müssen. Wir werden dies besser einschätzen können, sobald in den nächsten Monaten mehr Erfahrungen mit den jetzt bereits zugelassenen und in den nächsten Monaten noch zuzulassenden Impfstoffen vorliegt. Generell kann man vermuten, dass Impfstoffe, die einen hohen Schutz vermitteln, weniger Probleme mit den neuen Varianten haben werden als solche, die bereits gegen die herkömmlichen Virusvarianten nur einen partiellen Schutz vermitteln. Aber dennoch gilt zurzeit: ein Impfstoff, der einen partiellen Schutz vermittelt, ist besser als kein Impfstoff!

Gegen die Ausbreitung des Virus haben Wissenschaftler vorgeschlagen, den Lockdown europaweit so lange beizubehalten, bis die Inzidenz von 10 unterschritten wird? Was halten Sie von dieser „NoCovid-Strategie“?

Ich kann sehen, dass dies aus virologischer Sicht wünschenswert wäre. Natürlich gilt, gerade vor dem Hintergrund der problematischen neuen Varianten, dass wir umso sicherer sind, je niedriger die Inzidenzzahlen sind. Es besteht also kein Zweifel, dass wir die zurzeit noch hohen Infektionsraten in Deutschland noch deutlich verringern müssen. Ich glaube aber, dass es schwierig werden wird, für die mit dem Ziel ‚No Covid‘ verbundenen Maßnahmen genügend Akzeptanz zu bekommen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste man die Grenzen innerhalb Europas schließen und – bei der derzeitigen Inzidenz – einen mehrmonatigen harten Lockdown durchhalten. Angesichts der damit verbundenen anderen Probleme (Wirtschaft, Schulen, psychologische Nebenwirkungen) halte ich dies für nicht realistisch.

Wenn – hoffentlich – die Zahl der an COVID-19 Gestorbenen und schwer Erkrankten in den nächsten Monaten dank Impfung der besonders gefährdeten Personen (Heimbewohner, Ältere, Personen mit Vorerkrankungen, im Gesundheitssystem Arbeitende, etc.) zurückgehen wird, wird die Herausforderung an die Politik sein, zu vermitteln, dass gewisse Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht so schnell aufgehoben werden können, wie dies von uns allen ersehnt wird. Hierfür in der Öffentlichkeit die Akzeptanz zu erzielen, sollte das vordringliche Ziel sein.

Herr Professor Schulz, herzlichen Dank für das Gespräch.

Zur Abbildung:

Das Spike-Protein (grau) ermöglicht SARS-CoV-2, sich an die menschliche Zelle zu binden. Die Abbildung zeigt die Positionen der durch Mutationen veränderten Aminosäuren in der UK-Variante (B.1.1.7; links), der Südafrika-Variante (B.1.351; Mitte) und der Brasilien-Variante (B.1.248; rechts). © Krey